Versammlung der Gleichen

Das Gefühl vertreten zu werden, kann nur entstehen, wenn sich Wähler und Gewählte regelmäßig auf Augenhöhe politisch austauschen können. Das ist meine Devise für die Wahrnehmung des repräsentativen Wählerauftraugs. Nur so können öffentliche Diskurse in der Praxis  ihre Wirkung entfalten.

Politik gestalten darf von uns Piraten nicht nur Einbringen neuer Inhalte bedeuten. Nein, die hohen Ansprüche an verwirklichter Demokratie, die wir an uns selbst stellen, müssen nach außen getragen werden. Der Wandel, den wir zu erbringen hoffen, muss sich in aller erster Linie in der Art und Weise niederschlagen, wie wir unabhängig von dem jeweiligen Inhalt denen begegnen, die uns ihr Vertrauen ausgesprochen haben. Würden wir das nicht tun, könnten wir genauso fordern, den Schriftzug „Dem Deutschen Volke“ vom Reichstagsgebäude entfernen zu lassen.

Derzeit haben wir eine verqueere Situation, in der viele Politiker Repräsentation mit Präsentation verwechseln. Das heißt konkret, dass ihr Augenmerk nach einem erfolgreichen Wahlkampf erst einmal wieder darauf zurückfällt, Präsenz zu zeigen. Das ist sicher ein Teil der Aufgabe, doch von der bloßen körperlichen Anwesenheit ihres Abgeordneten haben die wenigsten Bürger einen Nutzen. In vielen Fällen findet man auf den Webpräsenzen der Volksvertreter auch lediglich Berichte über vergangene Veranstaltungen: Ein Spatenstich hier, eine Festrede da – und sowieso ganz viele Parteiveranstaltungen.

Das macht den Politiker nur für ein ganz bestimmtes Milieu nahbar, möglicherweise sogar ein besonders unkritisches. Mit Sicherheit aber mangelt es an politischen Zusammenkünften von Wählern und Gewählten. Mit der Wahl und impliziten Zustimmung zu bestimmten Programmpunkten hört die Notwendigkeit des Austauschs nicht auf: Zum einen bestimmen meist unvorhergesehene Entwicklungen die politische Tagesordnung und zum anderen braucht es genau deshalb eine ständige Rückkopplung an die Bürger.

Doch wie kann man das erreichen? Ein Blick über den großen Teich ist normalerweise nicht meine Adresse für politische Vorbildfunktionen, jedoch möchte ich auf sogenannte Townhall Meetings aufmerksam machen. Dahinter versteckt sich eine Option, Bürger mit ihren Vertretern und Regierenden zusammenzuführen, die bei uns viel zu wenig Beachtung findet. Und das, obwohl Angela Merkel während des Bundestagswahlkampfes 2009 im Mai eine solche Veranstaltung und diesen März erneut nach US-Vorbild abgehalten hatte. Die politische Kultur hat sich jedoch dadurch keinen Millimeter gewandelt.

Mein Ratschlag: Den zweiten nicht vor dem ersten Schritt zu machen. Das Prinzip des Town Hall Meetings eignet sich wunderbar für die Organisation einer Bürgerversammlung im Heimatwahlkreis eines Bundes- oder Landtagsabgeordneten. Erst in ein Geflecht von regelmäßigen Treffen verschiedener Politikern aller Ebenen mit ihren Wählern eingebettet, kann eine solche Veranstaltung der Kanzlerin wirklich Sinn ergeben und Wirkung zeigen.

Mindestens fünf Mal im Jahr sollte ein jeder Deputierter an verschiedenen Orten in seinem Wahlkreis eine Bürgerversammlung abhalten. Das kann auch gerne auf Kosten von unpolitischen oder reinen Parteiveranstaltungen gehen. Zur Optimierung einer solchen Bürgerversammlung empfiehlt sich eine sorgfältige Zeiteinteilung und eine Begrenzung der Dauer, um beide involvierte Parteien, nämlich Volk und Volksvertreter, nicht zu überbeanspruchen sowie Möglichkeiten zu gewähren sich vorzubereiten.

Direkt nach der Begrüßung durch den Abgeordneten könnte dieser mit dem ersten Teil beginnen, der jedoch eher kurz gehalten werden sollte. In dieser „aktuellen Stunde“ würde der Politiker knapp über derzeit anstehende und bereits zurückliegende Entscheidungen informieren, sowie auf weitere Informationsangebote seines Wahlkreisbüros und des Bundestags verweisen, die in der Regel heutzutage schon existieren und so besser in ein informationelles Gesamtkonzept eingebunden werden könnten. Fragen wären in diesem Segment allerdings noch nicht vorgesehen, könnten aber durchaus schriftlich oder telefonisch an den Abgeordneten und seine Mitarbeiter gestellt werden. Wichtig dabei ist, dass man zwar organisatorische Abstriche machen muss, aber dem Bürger dennoch grundsätzlich keinen Maulkorb auferlegt und gleichzeitig auf adäquate Alternativen hinweist. Die Wählerinnen und Wähler fühlen sich so ernst genommen und weder bevormundet noch in ihrem Recht auf Information eingeschränkt. 

Der nächste Teil bestünde in einer genaueren Betrachtung von Themen. Der erste Themenblock wäre vom Abgeordneten selbst gewählt, damit dieser seinerseits die Chance bekommt, die für ihn bedeutsamen Thematiken zu kommunizieren und zu vermitteln. Dies ist ferner eine gute Möglichkeit, um die Bürgerschaft konkreter mit der eigenen Ausschussarbeit vertraut zu machen, die ja keinesfalls immer mit den Themen der öffentlichen Diskussion in den Medien konvergiert. Auf diese Weise wird für die Bürger zum einen erkenntlich, woran ihr Vertreter arbeitet und wo er besonderen Einfluss nimmt, zum anderen aber auch, dass sich das Parlament nicht als Ganzes mit allen Fragen beschäftigt, sondern dass vieles im Verborgenen bzw. Abseits des öffentlichen Fokus geschieht. Kurz gesagt macht man die Bürger viel besser mit der oft falsch verstandenen und auch oft unbekannten arbeitsteiligen Natur des Ausschussparlaments vertraut.

Nachdem der Repräsentant mit seiner Information zu einem Thema Anstoß zur Diskussion gegeben hat, kommt es jeweils zu einer Frage-Antwort-Runde, in der offene Fragen geklärt werden können. Durchaus ist das aber auch die Zeit für Kritik, am besten natürlich konstruktive. In den Antworten des Politikers wird wiederum zum Ausdruck kommen, ob er 

a) an diesen Kritikpunkt schon gedacht hat und ihn aber begründet und gut erklärt zurückweist oder nicht für wesentlich hält, 

b) dies so noch nicht betrachtet hat, aber aus dem Stegreif begründet, warum er das für keinen Faktor hält oder

c) dies so noch nicht betrachtet hat und er seinen Standpunkt dahingehend noch einmal überprüft.

Es geht darum, den Bürgern einen Anteil an der Entscheidungsfindung zu gewähren und eine Möglichkeit zu schaffen, die Maxime der Meinung zu leben. Und zwar als Zuhörer wie Sprecher gleichermaßen, die dabei lernen sowie Neues erkennen und verstehen. Denkweisen und Entscheidungen wirken nicht mehr willkürlich, sondern werden nachvollziehbar. Das sind die wunderbaren Kräfte des Dialogs zwischen Menschen, die uns im Alltag an sich schon gut vertraut sind. In einer Diskussion kann man immer voneinander lernen, wofür man sich gerade im öffentlichen Raum nicht zu fein sein sollte und es umgekehrt aber auch für alles andere als eine Schwäche, wenn sich jemand etwas sagen lässt. Jeder, das heißt Abgeordnete und Bürger, müssen bereit sein, den Veranstaltungsort mit einer anderen Meinung zu verlassen, als sie ihn betreten haben. Das ist die entscheidende Zutat.

Der nächste und letzte Themenblock geht dann von den Bürgern aus, das heißt, diese sprechen Themen an und eröffnen eine Diskussion darüber. Äquivalent zu den einleitenden und informativen Worten zu einem Thema seitens des Volksvertreters vor der Frage-Antwort-Runde, sollte auch die Bürgerin oder der Bürger das Anliegen genauer beschreiben und so eine Grundlage für eine zielführende Diskussion schaffen. Es geht also nicht darum hinter einer Frage einen verbalen Angriff auf den Abgeordneten zu verstecken. Deswegen muss es unweigerlich Teil der Frageformulierung sein, eben diese Diskussionsgrundlage zu gewährleisten, die eine Entgegnung des Politikers und weitere Fragen zum Thema möglich macht. Im Mittelpunkt auch diesen Blocks steht also wieder die Information für die Bürgerschaft und der Dialog im Sinne der Maxime der Meinung zwischen dieser und dem Politiker, der sie vertritt. Die zuvor aufgeführten Punkte a), b) und c) gelten nicht zuletzt auch im Bezug auf den Bürger.

Den großen weiteren Vorteil, den ich im Konzept des Town Hall Meetings sehe, ist der, dass man tatsächlich eine Diskussion zu einer Konklusion bringen kann – zumindest teilweise. Anders als in einer öffentlichen Debatte über Medien, ist durch die direkte Begegnung die Möglichkeit gegeben, unmittelbar nach der Formulierung von Argumenten diese zu einem Gesamtbild zusammenzutragen. Denn im Verlauf eines wahrhaftigen Diskurses kann man mit diesem Konzept häufige Falschinformationen aussortieren, wichtige von unwichtigen Argumenten trennen und gemessen an deren Bedeutung relativieren. Darüber hinaus hat man zumindest in einem gewissen Rahmen auch noch die Chance, Ängste und Nöte verschiedener Individuen und Gruppen zu verstehen sowie Motive und Motivationen zu erkennen, was wiederum enorm wichtig für eine inhaltliche Anpassung und Optimierung eines Vorhabens ist. So fließen die Meinungsäußerungen im Rahmen der Bürgerversammlung in den Entscheidungsprozess mit ein – es bleibt nicht bei dem viel beklagten „Nein-Doch-Kindergarten“. Selbst wenn die Bürger miteinander über die Vor- und Nachteile eines Gesetzesvorschlags diskutieren und streiten, der Abgeordnete hat hier die geeignete Position zur Mittlung und Vermittlung, indem er sich in beide bzw. alle Seiten hineinversetzt. Darin erkennt er dann gegebenenfalls die Notwendigkeit, durch Änderungen einen größeren Ausgleich zwischen den berechtigten Einwänden aller Seiten zu schaffen. 

In einem idealen Diskurs ist jeder auf der gleichen Ebene. Diesen Anspruch müssen wir bestmöglich in die Realität umsetzen. Die Bürgerversammlung scheint mir in der vorgestellten Form als Versammlung von Gleichen eine Grundlage dafür zu bieten. Jetzt sind wir alle gefragt, Politiker wie Bürger, mit Einfallsreichtum, Innovation und Entschlossenheit das in die Tat umzusetzen bzw. dahin gehend Druck auszuüben. Warum keine eigene Software, die die Themenzusammenstellung interaktiv möglich macht? Warum nicht Fazit-Abstimmungen und Meinungsbilder der Teilnehmer? Vor meinem geistigen Auge tut sich ein Universum an Gedanken auf – weil es sich lohnt.

Sagen wir die gute, alte Volksherrschaft noch nicht tot, sondern füllen sie mit Leben und dem Zeitgeist, der den mündigen Bürger und Abgeordneten (Mein Senf zu Fraktionszwang) jederzeit auszurufen bereit ist. Es wird uns wie Schuppen von den Augen fallen, dass wir erst dann das erreicht haben, was wir Demokratie nennen.